Die Entdeckung des Kreatin-Kicks
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Kraft und Konzentration steigern, Knochen stärken,
besser altern – Kreatin kann die körperliche und
seelische Gesundheit auf das nächste Level heben.
Man stelle sich vor, es gäbe eine Substanz, die unsere Leistungsfähigkeit in nahezu jeder Lebenslage verbessert. Die uns gesund hält und zugleich sicher und einfach einzunehmen ist. Gibts nicht? Gibts doch.
„Kreatin ist eine außerordentlich wichtige Energiequelle für unsere Zellen“, sagt Jürgen Gießing, Professor am Institut für Sportwissenschaft an der Universität Kaiserslautern-Landau und Autor des Sachbuchs „Kreatin“ (BoD). Da aber die Funktion von Kreatin zunächst an Sportlern untersucht wurde, interessierten sich bislang vor allem Bodybuilder und Leistungssportler für das Pulver. Doch das, so der Experte, wird dem Nahrungsergänzungsmittel nicht gerecht. Denn ob wir nun Gewichte stemmen oder Einkaufstüten in den vierten Stock schleppen: Stets müssen Muskeln hart arbeiten – und brauchen dafür Energie. Und nicht nur das: Kreatin, so Gießing, „ist essenziell für unzählige Stoffwechselprozesse im Körper – und deshalb für unsere Gesundheit und die Alltagsbewältigung von unschätzbarem Wert.“
Dafür muss man zunächst verstehen, was Muskeln bewegt. Als Treibstoff fungiert hier das Molekül Adenosintriphosphat (ATP), das aus Adenosin und drei Phosphatgruppen besteht. Beim Zusammenziehen des Muskels zerfällt es in Adenosindiphosphat sowie eine Phosphatgruppe und gibt dabei Energie für die Kontraktion frei. Damit ADP schnell wieder zu ATP werden kann, holt sich der Muskel eine Phosphatgruppe aus dem als Kreatinphosphat gespeicherten Kreatin. Je mehr davon vorhanden ist, desto mehr intensive Muskelkontraktionen sind möglich, bevor die reguläre Energiezufuhr über die Glykolyse zum Tragen kommt.
Einen Zweitjob übernimmt Kreatin außerdem als Energie-Shuttle zwischen den Mitochondrien (den Kraftwerken der Zellen) und allen Orten im Körper, die Energie benötigen. Die Substanz ist nicht nur wichtig für die starke und schnelle Muskelbelastung, sondern verkürzt auch die Regenerationsphase nach einer Belastung.
Raus aus dem Kreatin-Defizit
Der Körper selbst stellt pro Tag ein bis zwei Gramm Kreatin aus drei Aminosäuren her, baut allerdings auch wieder rund 1,5 bis drei Gramm Kreatin ab und scheidet es als Kreatinin über die Niere aus. Das heißt, so Experte Jürgen Gießing, „dass wir einen täglichen Kreatinbedarf von bis zu zwei Gramm haben, der über die Nahrungszufuhr gedeckt werden kann“.
Kreatin steckt aber nur in tierischen Nahrungsmitteln. Menschen, die sich vorwiegend vegetarisch oder vegan ernähren, haben dadurch fast immer einen Mangel an Kreatin. Doch auch Fleischesser nehmen meist nicht genug zu sich: Um das tägliche Defizit zu füllen, müsste man pro Tag 700 Gramm Schweine- oder Rindfleisch essen oder 30 Liter Milch trinken.
„Der Körper versorgt uns bei Kreatin mit dem Notwendigen, aber nicht mit dem Wünschenswerten“, drückt es Jürgen Gießing aus. „Denn es macht sich in der Leistung durchaus bemerkbar, ob der körpereigene Kreatinspeicher nur zu 70 Prozent gefüllt ist oder aber – wie bei Menschen, die Kreatin supplementieren – zu 100 Prozent.“
Entdeckt vor knapp 200 Jahren von dem französischen Chemiker Michel Eugène Chevreul, hat sich Kreatin zu einem der besterforschten Nahrungsergänzungsmittel entwickelt – aber auch zu dem wohl meistunterschätzten. Dabei weisen zahlreiche wissenschaftliche Studien auf positive Effekte einer Kreatin-Supplementierung hin – von der Zeugung bis ins hohe Alter.
Hoffnungsträger bei Post-Covid
Es beginnt schon mit der Schwangerschaft: Eine gute Kreatinversorgung der werdenden Mutter beeinflusst bereits das Wachstum sowie die Entwicklung des Kindes positiv. Nach der Geburt wird das Kind über die Muttermilch mit Kreatin versorgt, bis die körpereigene Produktion in Gang kommt.
In der Rushhour des Lebens verbessert eine Kreatin-Zufuhr unsere Gedächtnisleistungen und verzögert geistige Ermüdung. Erste Hinweise gibt es zudem darauf, dass Kreatin die psychische Leistungsfähigkeit und das emotionale Befinden unter Stress verbessern kann.
Auch die Medizin blickt mit wachsendem Interesse auf Kreatin. Bei Menschen, die länger bettlägerig sind, verhindern Kreatin-Gaben zwar nicht den Muskelschwund, beschleunigen aber in der Rehabilitationsphase deren Wiederaufbau signifikant. Ermutigend sind Studien zur Supplementierung bei Post-Covid, also der massiven Erschöpfung nach einer Corona-Infektion. Die Universität Jena sucht aktuell Probanden für eine Studie, um die Wirkung von Kreatin bei Post-Covid näher zu untersuchen.
Vor allem aber in der Anti-Aging-Forschung gilt Kreatin als neuer Hoffnungsträger. Denn mit dem Alter sinkt die natürlich vorhandene Kreatin-Menge in Muskulatur, Herz und Gehirn, was zu Muskelschwund (Sarkopenie), einer Verschlechterung des Herz-Kreislaufsystems und geistigen wie motorischen Einbußen führt. Kreatin punktet hier nicht nur bei der Erhaltung von Muskelmasse und -kraft, sondern auch mit seinen zellschützenden Eigenschaften im Kampf gegen Antioxidantien. Da Kreatin auch das Wachstum und die Mineralisierung von Knochen und Knorpel unterstützt, profitieren gerade Frauen im mittleren Lebensalter von dem Nahrungsergänzungsmittel: Nach der Menopause leiden rund 30 bis 40 Prozent aller Frauen unter Knochenschwund (Osteoporose).
Auf den Goldstandard achten
Bei der Vielzahl von Kreatin-Studien konnten inzwischen auch Mythen rund um das Mittel eliminiert werden: „Es verursacht weder Haarausfall noch macht es dick, schädigt die Nieren oder verursacht Krämpfe“, betont Jürgen Gießing. Viele dieser Fehlannahmen beruhen darauf, dass Sportlern früher zu Beginn der Supplementierung eine „Ladephase“ mit 20 Gramm Kreatin pro Tag empfohlen wurde. Vor derlei Überdosierungen warnt der Sportwissenschaftler: „Das ist nicht nur unnötig, sondern sogar kontraproduktiv, weil der Körper dann die eigene Kreatinsynthesefähigkeit runterfährt.“ Seine Empfehlung: „Drei bis maximal fünf Gramm Kreatin-Monohydrat pro Tag, idealerweise morgens oder nach dem Training in ausreichend Flüssigkeit auflösen.“ Die Verbraucherzentralerät, beim Produktkauf auf die Gütesiegel „Creapure“ oder „Creavitalis“ zu achten, die für den deutschen Goldstandard bei der Herstellung stehen: Produkte aus Asien seien oft verunreinigt oder gestreckt, „teilweise ist nur ein Drittel der angegebenen Kreatinmonohydrat- Menge enthalten".
Als „Wundermittel“ will Gießing Kreatin trotz allem nicht bezeichnen. Denn das könnte dazu verführen, nur die Kreatinzufuhr zu erhöhen und dann auf ein Wunder zu warten: „Kreatin kann seine Wirkungen auf Muskelaufbau, Fitness und Anti-Aging nur dann voll entfalten, wenn regelmäßig trainiert wird.“ Selbst einem Wunder muss man eben mitunter auf die Sprünge helfen.